Rückblick
auf meine Schuljahre 1968-1970 am Hollenberg-Gymnasium in Waldbröl zur
zeitgeschichtlichen Einordnung von 1968
„ Ich beschreibe 1968 als Epochenbruch
der deutschen Gesellschaft in Richtung Egozentrik,
Faulheit und Mittelmaß. Es war eine gewaltige Zäsur. Wir leiden heute immer
noch darunter.“
(Kai Dieckmann, Chefredakteur der Bildzeitung, in : Die Weltwoche vom
18.10.2007)
„ Zu den langfristigen
Entwicklungstendenzen, die von der 68er Bewegung verstärkt wurden, gehören
a) die Verstärkung der Partizipations- und Emanzipationsbewegung,
b) die Entfaltung alternativer, kulturkritischer Lebens- und Erziehungsformen
und
c) eine Bewusstseinsveränderung.“ (Prof. Dr. Thamer,
Vorlesung : Die 68er Bewegung als soziale Bewegung, Sommersemester 2009,
Universität Münster)
Diese gegensätzliche historische
Einordnung lasse ich so stehen.
Meine
Schuljahre am Hollenberg-Gymnasium von 1968 bis 1970
Vor einigen Jahren habe ich begonnen,
Quellen über diese Jahre zu sammeln. Einiges habe ich gefunden, vieles war unauffindbar.
Ich war in der Klasse 13 L. Mein Klassenlehrer war Max Schöler.
Das Abitur haben wir am 15. Juni 1970 abgelegt. Soweit ich mich erinnern kann,
gab es keine Abiturzeitung der Abiturienten.
Dagegen gab es aber viel Aufregung um die Abitur-Abschlussfeier. Die Zeitungen
titelten:
1. Abiturienten beklagten sich über
Schule und Lehrer (Oberbergischer Anzeiger vom 24.06.1970) (s. Datei)
2. „ Seid Sand, nicht Öl im Getriebe der
Welt“ (OVZ vom 24.06.1970)
Beide Zeitungsartikel sind lesenswert.
Was war geschehen? Die Abiturienten lehnten eine feierliche Verabschiedung durch
die Schule ab. Als Schülervertreterin hielt Elke Göbel eine kritische Rede zum
Verhältnis von Schülern und Lehrern. Diese Rede konnte in keinem Archiv
gefunden werden. Religionslehrer Friedrich Schmidt hielt eine kritische Rede
über „ Reife in dieser Zeit“. Diese Rede wurde mir von der Witwe von Herrn
Schmidt im Juni 2010 zugesandt. Diese Rede kann als ein zeitgeschichtliches
Dokument betrachtet werden, das mit der Rede von Karin Storch „ Erziehung zum
Ungehorsam“ verglichen werden kann.
Die Verabschiedung am 20.06.1970 findet
auch einen Niederschlag in der Schulchronik des Hollenberg-Gymnasiums. Diese
ist im Stadtarchiv der Stadt Waldbröl einzusehen. Dr. Scheuten schreibt dazu
seine Gedanken auf. Besonders die „aufmüpfigen Abiturienten„der 13 L bekamen
eine weitere kritische Anmerkung, weil sich einige geweigert hatten, ihre
Berufswünsche für die Zukunft anzugeben.
Eine weitere Erinnerung, die ich an
diese Jahre habe, ist der Schülerstreik am 04. Juni 1970.
Thema war ein Protest gegen den Bildungsnotstand und den Numerus Clausus an den
Universitäten. Ich kann mich nur noch daran erinnern, dass die Oberstufe eine
Schulversammlung in der Aula durchführte, in der eine Mehrheit beschloss,
einige Unterrichtsstunden zu boykottieren. Nach dem Beschluss sind wir dann zum
Ev. Gemeindehaus gezogen. Dieser erste Schülerstreik am Hollenberg-Gymnasium
findet auch eine ausführliche Würdigung von Dr. Scheuten in der Schulchronik.
Insgesamt lässt sich sagen, dass unsere
Klasse 13 L eine sehr diskussionsfreudige Klasse war.
Unser Klassenlehrer Max Schöler ließ jede Diskussion
und Abstimmung zu. Wir hatten auch zwei Religionslehrer (Friedrich Schmidt,
Pfarrer Peters), die aktuelle Themen dieser Zeit aufgriffen….Sexualerziehung,
Dritte Welt, Gesellschaftskritik…
Im Jahre 1970 wurden auch vom
Kultusministerium mehrere Reformen eingeführt, die als Reaktion auf Schüler-
und Studentenproteste zu verstehen sind. So wurde es einigen Schülern erlaubt,
an Lehrerkonferenzen teilzunehmen. Außerdem war unser Abitur 1970 das erste
Abitur, bei dem eine mündliche Prüfung entfallen konnte, wenn die
Abiturklausuren weitgehend mit den Vornoten übereinstimmten. So wurde ich von
den mündlichen Prüfungen befreit.
1970 haben sich dann unsere Wege
getrennt. Viele unserer Klasse sind nach Bonn und Köln gegangen. Ich habe
Sozialwissenschaften und Erziehungswissenschaften an der Ruhr-Universität
Bochum studiert. Im Rückblick lässt sich sagen:
Die 70 er Jahre waren bestimmt von Impulsen und Gedanken der sozialliberalen
Koalition mit dem Kanzler Willy Brandt. Viele Soziologen sehen diese Zeit als
Zeit einer notwendigen Modernisierung der Gesellschaft. Einige sehen das auch
anders. An den Universitäten hatte sich der SDS aufgelöst. Aus einer antiautoritären
Bewegung gingen teilweise kommunistische Sekten und Parteien hervor. Die Gewalt
der RAF bestimmte auch das politische Klima der 70er Jahre. Später entstanden
neue soziale Bewegungen (Frauenbewegung, Ökologiebewegung…)
Die Jahre 1968-1970 waren aufregende und
spannende Jahre in der Nachkriegsgeschichte.
Jeder hat sicherlich unterschiedliche Erfahrungen gemacht. Die vorliegenden
Quellen sollen zur Erinnerung und zum Nachdenken anregen.
Hartmut Regenstein
05.09.2010
Oberbergischer
Anzeiger vom 23. Juni 1970
Abiturienten
beklagen sich über Schule und Lehrer
-unzeitgemäßes System kritisiert- 57
bestanden- Waldbröl (he)
Alle 57 Oberprimanerinnen und
Oberprimaner des Hollenberggymnasiums haben die
„Stunde der Wahrheit“ glücklich hinter sich gebracht. Schon am Vormittag nach
dem
Examensabschluss wurden sie, im Gegensatz zur geheiligten Tradition, im
verkürzten
Verfahren in der Aula ihrer Schule mit den Reifezeugnissen verabschiedet.
„Leider sind im zunehmenden Maße Kräfte
am Werk, die eine Abiturfeier radikal ablehnen“,
sagte Erwin Heupel, der als Vertreter der Eltern
sprach. Hier sei man nicht so weit gegangen zu sagen: „ Es genügt, wenn wir den
Wisch im Sekretariat abholen oder durch die Post zugestellt erhalten. Ob mit
Musik und Chorgesang, darüber könne man verschiedener Meinung sein, aber nach
neun Jahren der Gemeinsamkeit in der Schule, gelte es würdig Abschied zu
nehmen. Nun, auf Chorgesang und Musik hatte man in Waldbröl verzichtet.
Es blieb bei der würdigen Verabschiedung. An Kritik dagegen fehlte es nicht,
als für die Abiturienten ihre Sprecherin, Elke Göbel, zu Wort kam. Wir alle
kennen die Missstände an den Schulen“, stellte sie fest und meinte, die Macht
der Lehrer sei noch zu groß. Sympathie und Antipathie dürfe es nicht mehr
geben.
Schüler dürfen nicht durch ironische Bemerkungen der Lehrer eingeschüchtert
werden.
Schüler und Lehrer bewegten sich auf parallel verlaufenden Wegen, auf denen sie
niemals
zusammenfinden könnten. Es fehle an Information, an der politischen Diskussion
in der Schule. „Wie sollen wir uns, die mit 18 Jahren wählen, in der
Gesellschaft zurechtfinden,
wenn die Vorbereitung darauf fehlt.“
Oberstudienrat Schmidt, Vertrauenslehrer
der SMV, sah in seinen Ausführungen die Schule als Teil dieser Welt, die durch
die vielschichtigen Ereignisse unserer Zeit, die er kaleidoskopartig Revue
passieren ließ, so verworren geworden ist. Die Schule steht nicht im Vakuum. Es
sei eine Zeit im Aufbruch, in der es keine geheiligten Traditionen mehr gebe.
Der Forderung nach einem perfekten System, das leere Herzen voraussetze, müsse
widerstanden werden. Ihr steht das Wort entgegen:“ Seid unbequem im Namen der
Menschen.“
Die Verabschiedungsstunde der Abiturienten hatte der stellvertretende
Bürgermeister Emil
Mertens mit Glückwünschen der Stadt eröffnet. „ Mit der Zeit kommt die Distanz,
aus der man nicht mehr im Zorn auf die Schule zurückblickt.“, mit diesen Worten
führte sie der Schulleiter, Dr. Scheuten, zu Ende.
Namen der Abiturienten mit
Berufswunsch……
Oberbergische
Volkszeitung vom 24.06.1970
„
Seid Sand im Getriebe der Welt“
Abiturientenfeier am
Hollenberg-Gymnasium in Waldbröl- Alle bestanden
Waldbröl (enz)
Unter dem Vorsitz des Schulleiters, Oberstudiendirektor Dr. Scheuten, fand
vom 15. bis 19. Juni am Hollenberg-Gymnasium Waldbröl die Reifeprüfung statt,
die von allen 57 Oberprimanern bestanden wurde.
Im Rahmen einer schlichten und kurzen
Feierstunde, die auf Wunsch der Abiturienten in
wohltuender Weise ohne viel Wortgeklingel und rhetorischem Zierat
verlief, wurden im
Anschluss an einige Kurzreferate die Reifezeugnisse verteilt.
Nachdem der stellvertretende
Bürgermeister Emil Mertens die Anwesenden begrüßte und die Abiturientin Elke
Göbel aus Ruppichteroth kritisch das Verhältnis Lehrer/Schüler durchleuchtet hatte,
hielt SMV-Vertrauenslehrer Friedrich Schmidt eine bemerkenswerte Rede über die „Reife
in dieser Zeit“. Auf die Frage, wie im Angesicht unserer verworrenen Zeit verantwortliches
Handeln aussehen sollte, lehnte sich Oberstudienrat Schmidt unter anderem an
das Zitat von Günter Eich an, wo es heißt: „ Tut das Unnütze, singt die Lieder,
die man aus eurem Munde nicht erwartet! Seid unbequem, seid Sand, nicht das Öl
im Getriebe der Welt!“ In diesem Zusammenhang fuhr Oberstudienrat Schmidt, an
die Abiturienten gewandt, wörtlich fort: „Natürlich werden Sie sich in Ihrer
Ausbildung dazu befähigen, zum Funktionieren der Gesellschaft und Wirtschaft
beizutragen. Und das ist notwendig und muss ehrlich und zuverlässig getan
werden. Andererseits aber sehen wir doch die Tendenz zu perfekten Systemen, zur
total verwalteten Welt. Wir müssen ganz neu lernen, das verantwortlich zu
gebrauchen, was anlässlich einer Abiturienten-Entlassung vor einigen Jahren in
Köln provokatorisch „Ungehorsam“ genannt wurde. Seid unbequem, im Namen der
Menschen.“ Nachdem Erwin Heupel als Vertreter der
Eltern noch einige grundsätzliche Ausführungen über die Form und Gestaltung der
Abiturientenfeier gemacht hatte, wurden die Zeugnisse verteilt.
Schülernamen mit Ortsangabe….
Friedrich Schmidt
Reife
in dieser Zeit
Rede
zur Abiturentlassung 1970
Sehr geehrte Damen und Herren,
liebe Abiturienten und Abiturientinnen,
Sie haben diese Form des Abschlusses Ihrer Schulzeit gewählt, obwohl sicherlich
andere
Formen denkbar und möglich sind. Ich schließe daraus, dass Sie meinen, wir
hätten uns
(immer noch) etwas zu sagen, und auch wünschen, dass es geschieht. Betrachten
Sie deshalb meine Ausführungen als Beitrag zu einem abschließenden Gespräch.
Eine Schule steht nicht für sich im erhöhten Bereich der Ideen. Sie vermittelt
auch nicht Inhalte aus einer völlig absoluten, reinen Welt der Ideen, die beziehungslos
über den schmutzigen Niederungen des alltäglichen Lebens steht. Die Schule ist
hingegen Teil dieser Welt. Sie darf nicht dazu verleiten, neben der Zeit zu
leben, sondern muss befähigen, in der Zeit verantwortlich zu handeln, für sie
verantwortlich zu denken.
Die Fragen drängen sich auf: wie sieht unsere Zeit und Welt eigentlich aus? Was
müsste
geschehen, um zum verantwortlichen Handeln in der Zeit zu befähigen?
Das Gesicht unserer Zeit ist verworren. Sie haben zu Ihrer Schulzeit erlebt,
wie die ersten
Menschen den Mond betraten, wie Rudi Dutschke in Berlin Tausende zu Vietnam-
Demonstrationen auf die Beine brachte und von Berlin her Bewegung und Unruhe in
die
deutschen Hochschulen kam; wie im Mai 68 radikale Studenten in Paris die Börse
stürmten und meinten, das Herz des Kapitalismus zu treffen; wie im bis dahin
kolossalen, altehrwürdigen und immer noch intakten Gebäude der katholischen
Kirche sich bedenkliche Risse zeigten, als ein Papst „ die Pille“ verbot; wie
ein Justizminister erwog, die strengen Bestimmungen über Gefängnis Insassen zu
lockern. Sie haben miterlebt, dass das Experiment eines „ Sozialismus mit menschlichem
Angesicht“ gewaltsam beendet wurde; dass der Krieg in Biafra durch die wirtschaftlichen
Interessen zweier Großmächte verlängert wurde; dass eine Black Power Bewegung
entstand; dass eine Protest und Contestatione Bewegung
sich auf der ganzen Welt ausbreitete und überall ihre Protest Songs sang; auch
überall unter Polizeiknüppel geriet; dass amerikanische Studenten auf dem
Campus amerikanischer Hochschulen erschossen wurden, dass Geistliche
verschiedener Länder sich offen zum Kampf gegen die bestehende Ungerechtigkeit
und damit gegen die bestehenden staatlichen (und manchmal kirchlichen) Autoritäten
entschlossen.
Sie haben miterlebt, wie der Mini Rock erfunden wurde, wie Rowohlt eine
Taschenbuchreihe
„Sexologie“ auf den Markt brachte, wie eine ungeheuer breite Diskussion über
die bestehenden sexual-ethischen Vorstellungen und deren Pönalisierung
(Belegung bestimmter Sachverhalte mit einer Strafe, H.R.) einsetzte, wie die
ersten Porno-Messe der Welt veranstaltet wurde. Machen diese zufällig
zusammengetragenen Fakten (natürlich ließe sich ihre Zahl vermehren) nicht
Tendenzen dieser Welt deutlich?
Die Schule steht nicht in einem Vakuum, auch in ihr zeigen sich solche
Tendenzen. Sie wissen, dass wir mittlerweile einen sehr weitgehenden (was
natürlich auch bestritten werden kann) SMV-Erlass haben; dass wir die Teilnahme
von Schülern an Konferenzen haben; dass es eine intensive Diskussion über die
alleinige Kompetenz des Lehrers in Bezug auf den Stoffplan und die Noten gibt;
dass die Frage der Autorität völlig neu gestellt ist; dass sich radikale Schülergruppen
gebildet haben, die nun ihrerseits die Machtfrage stellen.
Ja! Das Gesicht unserer Zeit ist verworren. Wir haben das Gefühl, mitten im
Aufbruch zu
stehen, in einer Wende zu einer vielleicht schrecklichen, vielleicht großartigen
Zeit, zu einer Zeit der neuen, freieren, emanzipierten Möglichkeiten des
Daseins. Vielleicht!
Wie sollte im Angesicht dessen
verantwortliches Handeln, Teilnahme, die nicht nur passiv bleibt, aussehen?
Lassen Sie mich dazu drei grundsätzliche Gedanken äußern.
1. Da lese ich zunächst in den
überlieferten Sprüchen eines unsteten Mannes aus dem
Kanaan des 8. vorchristlichen Jahrhunderts, Ihnen bekannt unter dem Etikett des
„ Propheten Amos“, folgendes: „Ich hasse und verwerfe eure Feste und habe kein
Wohlgefallen an euren Festversammlungen…. Hinweg von mir mit dem Lärm Eurer
Lieder! Das Spiel Eurer Harfen will ich nicht hören! Wie Wasser flute das Recht
und
die Gerechtigkeit wie ein nie versagender Bach!“ Was da als Fest, Spiel und
Lärm
provokatorisch bezeichnet wird, sind immerhin die „ heiligsten Güter der
Nation“, die
heiligen Traditionen Israels: religiöser Kult. Mit einer Handbewegung, in kaum
zu
überbietender Verachtung, werden sie hinweggefegt. Ich lese daraus: es gibt
keine
heiligen Traditionen, die eo ipso, von Ewigkeit her oder sozusagen vom Himmel
her
selbstverständlich gelten würden. Sie müssen sich immer wieder neu
qualifizieren im
Angesichte des Menschen. „Wie Wasser flute das Recht und die Gerechtigkeit wie
ein
nie versiegender Bach!“ Die Traditionen (Einrichtungen, Übereinkünfte,
Selbstverständlichkeiten) müssen sich immer wieder hinterfragen lassen- und sie
müssen
es tun! – nach der Faustregel jenes Größten der prophetisch-kritischen Führer
der
Menschheit, den Mannes aus Nazareth: „ Der Sabbat ist um des Menschen willen da,
nicht der Mensch für den Sabbat.“
2. Ich lese bei einem Dichter unserer
Zeit, bei dem das kritische Gewissen der Menschheit
heute wach ist, bei Günter Eich: „ Tut das Unnütze, singt die Lieder, die man
aus
euerem Munde nicht erwartet! Seid unbequem, sei Sand, nicht Öl im Getriebe der
Welt!“ Natürlich werden Sie sich in Ihrer Ausbildung dazu befähigen, zum
Funktionieren
von Gesellschaft und Wirtschaft beizutragen. Und das ist notwendig und muss
ehrlich
und zuverlässig getan werden. Andererseits aber sehen wir die Tendenz zu
perfekten
Systemen, zur total verwalteten oder, anders gesagt, zur „ schönen neuen Welt.“
Dem
muss widerstanden werden: „ Sand, nicht Öl im Getriebe der Welt.“ Wir müssen
ganz
neu lernen, das verantwortlich zu gebrauchen, was anlässlich einer Abitur
Entlassung vor
einigen Jahren in Köln provokatorisch „ Ungehorsam“ genannt wurde. „ Seid
unbequem!“ im Namen des Menschen.
3. Das alles kann nicht geleistet werden
ohne eine letzte Voraussetzung. G. Eich sagt in
dem eben zitierten Gedicht: „Wacht darüber, das eure Herzen nicht leer sind,
wenn mit
der Leere eures Herzen gerechnet wird!“ Die Leere der Herzen ist die
entscheidende
Voraussetzung selbstherrlicher Systeme: der manipulierte Mensch, telekratisch gelernt,
durch die „ geheimen Verführer“ jeder Art von Reklame und Propaganda
kommandiert.
Die Leere wird überwunden durch das „ Unnütze“, die „ unerwarteten Lieder“, das
Engagement, die wirkliche, aktive, gelebte Solidarität, letztlich durch die –
um ein fast
antiquiertes Wort zu gebrauchen- Liebe. So könnte in dieser verworrenen Zeit
voller
Grauen und Hoffnung ein Schritt getan werden auf die Selbstwerdung des Menschen
hin, wie sie Ernst Bloch in utopischer Hoffnung formulierte: „Der Mensch lebt
noch
überall in der Vorgeschichte, ja alles und jedes steht noch vor der Erschaffung
der Welt,
als einer rechten. Die wirkliche Genesis ist nicht am Anfang, sondern am Ende,
und sie
beginnt erst anzufangen, wenn Gesellschaft und Dasein radikal werden, das heißt
sich an
der Wurzel fassen. Die Wurzel der Geschichte aber ist der arbeitende,
schaffende, die
Gegebenheiten umbildende und überholende Mensch. Hat er sich erfasst und das
Seine
ohne Entäußerung und Entfremdung in realer Demokratie begründet, so entsteht in
der
Welt etwas, das allen in der Kindheit scheint und worin doch noch niemand war:
Heimat“.
Schulchronik
Hollenberg-Gymnasium
Schuljahr 1969/70
Dr. Scheuten
Abschlussfeier
S. 95 -96
Verabschiedung
am 20.06.1970, 10.30 Uhr, Aula
Beschlüsse von Eltern, Lehrern und
Schülern der Oberprimaner, die Feier keinesfalls zu
modernisieren, denn dann wäre ja auch die Rede der Primaner weggefallen,
sondern sie
„kritisch“ (Modewort, hohl und unstimmig) zu gestalten.
Und da es jedes Jahr einen Effekt…geben muss, wenn es „ richtig demokratisch
„zugehen soll, war es diesmal nicht die Ansprache der Primanerin, die außer den
üblichen Vorwürfen gegen die Macht der Lehrer „ Zurückhaltung“ übte, sondern
die Ansprache des Verbindungslehrers zur SMV, Oberstudienrat F. Schm.
Er frönte dem Zeitgeist- er ist progressiv katholischer Laientheologe und trägt
entsprechend
„links“, zitierte Eich, und die erfreute progressive Presse griff auf: „ Seid
Sand, nicht Öl im
Getriebe der Welt!“
Aufruhr der konservativen Elemente! Anwürfe gegen mich, wie ich so etwas dulden
könnte.
(seltsame Demokraten, auch die, wenn es ihnen gegen den Strich geht).-
Kurzum: Herr Schm, der auch im Religionsunterricht
und als Vorsitzender des
Pfarrgemeinderats gern und bewusst progressives enfant
terrible spielt, hatte seinen Eklat und sorgte für Wind in Waldbröl.“
Schulchronik
Hollenberg-Gymnasium
Dr. Scheuten
Schuljahr 1969/70
Seite 92
Schulchronik
Hollenberg-Gymnasium
Handgeschriebene
Anmerkung zu den Listen der drei Abiturklassen 1970
Abitur
1970
Alle bestanden nach dem neuen Ritus s.o. mit den dekretierten Erleichterungen. Und selbst dann war
es noch reichlich schwer für etliche. Der Berufswunsch „unbekannt“ der 13 L
geht auf die besonders demokratische Erziehung dieser Klasse zurück. (s.
Anmerkung 1)
In ihr war die „Bewusstseins Aufhellung“ besonders weit gediehen. Es saßen dort
besonders
merkwürdige und aufmüpfige Leute, die es ganz sicher noch lernen werden, wo die
„„Freiheit“ aufhört.
Schülerstreik
am 04. Juni 1970
Quelle: Schulchronik des
Hollenberg-Gymnasiums, S. 93 ff, Verfasser: Schulleiter Dr. Scheuten
„ Anfang Juni dann das nächste
Theaterstück im Bildungsbereich, der erste Schülerstreik des
Gymnasiums („Übungen im vorparlamentarischen Raume). Es handelt sich um eine „
Aktion“, die von irgendwo draußen im Lande zu einem Unterprimaner weitergegeben
wurde, der eine illegale Flugblattaktion startete und für den 4. Juni zum Schülerstreik
aufrief „ gegen den Numerus Clausus“. Eine völlig unsinnige Maßnahme in einem
berechtigten Anliegen. Die Entwicklung des Informationsterrors für mehr
„Bildungsreserven“ lief seit Jahren hinaus auf „Mehr Abiturienten!“ Wirksam,
aber ohne merkliches Niveausenkung des Abiturs nicht möglich. Prompt setzten
dann auch die dekretierten Erleichterungen ein.
Ergo wurde es fast unmöglich, das Abitur nicht zu bestehen.
Die „ Mehr Abiturienten“ kamen. Leider hatte man vergessen, mehr Auffangstellen
zu schaffen.
Da es sich nicht mehr um „ Bildungsprobleme“ im eigentlichen Sinne mehr
handelte, sondern zumeist um Effekthaschereien der Schaufensterdemokratie, spielte
das Zeitverhältnis von „ Mehr Abiturienten“ und deren „ Zubereitung an den
Hochschulen offenbar keine Rolle. Der „ Numerus clausus“ wuchs heran. Die „
Mehr Abiturienten“ aber auch die richtigen Abiturienten bekamen es zu spüren.
Prompt geriet das Dilemma, vor deren Auflösung Schulmänner aller Schattierungen
vergebens gewarnt hatten, in die Hände der Radikalen. Bei der gesamten Aktion
konnte man sich des Eindrucks der „ Fernsteuerung“ nicht erwehren.
Eine Solidaritätskundgebung mit Kollegen außerhalb der Schulzeit wurde vom
Kollegium
angeboten und abgelehnt. Die radikalen Elemente behielten bei den Abstimmungen
die
Oberhand. Dass Untersekundaner und Obersekundaner mit streikten, enthüllt den
Unfug sehr deutlich: Sie waren wirklich erst in weiter Entfernung (und zum Teil
überhaupt nicht) Betroffene, sorgten aber für Abstimmungsergebnisse.
Erwartungsgemäß blieben die Reaktionen der Behörde gering. Hier wurde die
Diskrepanz zwischen Bildungsanliegen und politischem Bereich deutlich. Diese
illegale Art, Verletzungen bestehenden Rechtes, Anfechtung von Ordnung und Gesetz
werden nicht geahndet nach bestehendem Recht, sondern unter den Gesichtspunkten
politischer Taktik, unter dem Aspekt von Wahlkampfopportunität (- die
Landtagswahlen standen bevor!), also unter sachfremden politischen Gesichtspunkten.
Bei so heißen Eisen rechnet niemand an der Front mit einer klaren Anweisung einer
wirksamen Unterstützung von oben. Auch ist der „ politische Informant“
gegenüber dem Dienstwegbeamten geschützt und gedeckt.
Das alles bringt den schnellen Zerfall des Bildungswesens und seine Verwandlung
in ein
parteipolitisch gesteuertes Befriedungspanorama mit sich.
So gab es einige „ Anweisungen“, of. Mitteilungsbuch, S. 136, die ebenso
verpufften wie eine
Konferenz am 6.6.1970, in welcher ein Teil der Schüler, es handelte sich um
parteipolitisch
ausgerichtete, im wesentlichen bereits eine „ dialektisch“ gekonnte Loslösung
von bestehendem Recht bekundeten, wenn sie auch aussagten, nicht gegen Schule und Lehrer
gestreikt zu haben.
Ein Teil der streikenden Klassen (U II-
O I) war zum Unterricht erschienen, alle miteinander
nahmen am Montag, den 8.06. den Unterricht wieder auf. Besonders die Ablehnung
des
Angebotes der Lehrerkonferenz, außerhalb der Unterrichtszeit eine gemeinsame Kundgebung
durchzuführen, hat das Vertrauensverhältnis zwischen Lehren und Schülern
gestört. Eine von OStR Breidenbach
geleitete Aussprache zwischen einer Schülerabordnung und einer Vertretung des
Kollegiums brachte zwar eine Vertrauenserklärung, jedoch keine Annäherung der
Standpunkte.
Bei den Konferenzen tauchte ein Begriff auf, der als „ Modell“ für das
Zerfließen der Inhalte
dienen könnte: „ neues Recht, das in der Bildung begriffen ist. Das Bedenkliche
und Schwierige einer Übergangssituation (nur nicht offener und ehrlicher „ Sackgasse“
oder „ Niedergang“ zu sagen“) kann deutlicher kaum ans Tageslicht kommen als
durch diesen „ Begriff“. In seinem Windschatten kommt alles Anarchische, Destruktive,Verfehlte, Radikale
daher gefahren mit dem Schein des Rechtes, das neu, wirksam, zeitnah,
„progressiv“ ist.
Zwar ist es weder formuliert, noch erprobt, aber es lässt sich so schön auf Zeiterscheinungen
projizieren, statt dass umgekehrt die z.T. mehr als
fragwürdige Zeiterscheinungen im Lichte des bestehenden
Rechtes gesehen und gewertet werden.“